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Friday, June 27, 2025

Der Mindestlohn droht politischer Sprengstoff zu werden

PoliticsDer Mindestlohn droht politischer Sprengstoff zu werden

Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, related, auf den Punkt.

Pro Industrie & Handel am Morgen

Von TOM SCHMIDTGEN

Mit LAURA HÜLSEMANN und ROMANUS OTTE

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TOP-THEMEN

Drei Szenarien, wie die Mindestlohnkommission entscheiden kann — und nur eine sorgt für Frieden in der Koalition.

Die SPD will für einen Förderbescheid ein Aufsichtsratsmandat, um bei kriselnden Stahlkonzernen mitzureden.

Merz zeigt sich nach dem EU-Gipfel skeptisch mit Blick auf die US-Zölle — und optimistisch bezüglich Mercosur.

Guten Morgen vom Group Industrie und Handel — die Entscheidung der Mindestlohnkommission wird die Stimmung auf dem SPD-Parteitag prägen. Romanus Otte wird vor Ort sein. Sprechen Sie ihn gern an.

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THEMA DES TAGES

SHOWDOWN UM 15 EURO: Heute soll die Mindestlohnkommission ihre heikle Empfehlung vorlegen. Die Bundespressekonferenz zog den Termin mit Steffen Kampeter (Arbeitgeber), Stefan Körzell (DGB) und Kommissions-Chefin Christiane Schönefeld auf 10 Uhr vor.

Pikantes Timing: Am Mittag beginnt der SPD-Parteitag — mit einer Rede von DGB-Chefin Yasmin Fahimi.

Die SPD will eine Erhöhung auf 15 Euro ab kommendem Jahr. „Für die SPD ist das eines der wichtigsten Themen“, sagte Sarah Philipp, Co-Chefin der NRW-SPD meinen Kollegen Laura Hülsemann und Jürgen Klöckner. Welche Möglichkeiten liegen auf dem Tisch?

Szenario 1: Die Kommission empfiehlt die Anhebung auf 15 Euro. Dann wäre Frieden. Doch das gilt als wenig wahrscheinlich. Die Arbeitgeber halten die Erhöhung um 17 Prozent für nicht verkraftbar.

Brandbrief Ost: Gestern warnten ostdeutsche Wirtschaftsverbände in einer gemeinsamen Stellungnahme vor den Folgen (hier). „Es darf keine weitere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns geben, solange dieser der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes vorauseilt“, heißt es darin.

Szenario 2: Die Kommission spielt auf Zeit. Vor allem den Arbeitgebern wäre es recht, das Ergebnis erst nach dem SPD-Parteitag zu verkünden, hört Romanus Otte. Die Leerstelle würde beim Parteitag für Diskussionen sorgen — aber nicht für Krach auf offener Parteitagsbühne.

Szenario 3: Die Kommission bleibt mit ihrer Empfehlung unter 15 Euro. Zuletzt wurde mehrfach eine Zahl von 14,60 Euro kolportiert.

Dann hat Lars Klingbeil ein Drawback. Er will als SPD-Chef wiedergewählt werden. Das könnte dann daran geknüpft werden, ihn per Parteitagsbeschluss darauf zu verpflichten.

Notfalls per Gesetz: „Ich halte es für absolut wichtig, hier einen Pflock einzuschlagen und den Mindestlohn auf 15 Euro anzuheben, notfalls per Gesetz“, sagte Philipp. Sie bringt auf dem Parteitag das Gewicht des größten SPD-Landesverbandes ein.

Spielraum: „Wenn er knapp drunter ist, würden wir kein Gesetzgebungsverfahren da anschließen“, sagte der kommissarische SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf meinem Kollegen Gordon Repinski im Playbook-Podcast.

Und immerhin: „Für mich wäre es ein Wert an sich, wenn Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen“, so Klüssendorf.

Aber da geht noch mehr: „Beim Parteitag können wir auch SPD-Themen beschließen, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen“, beharrt Philipp.

Zeichen setzen: „Die SPD kann nicht wieder erfolgreicher werden, wenn wir nur die To-do-Liste des Koalitionsvertrages abarbeiten“, meint sie. „Da spielen gute Löhne eine wichtige Rolle.“

Union in Habacht: „Wir sollten den Mindestlohn nicht zum Spielball parteipolitischer Debatten im Bundestag machen“, warnt Unions-Fraktionsvize Sepp Müller gegenüber Tom Schmidtgen.

Respekt: Er werde die Entscheidung der Kommission in jedem Fall akzeptieren — „ganz gleich, wie sie im Einzelnen ausfällt“.

Öffnungsklausel? Für zusätzliche Unruhe sorgt die Forderung des Bauernverbandes, den Mindestlohn für Erntehelfer um 20 Prozent zu senken. Auch weil Agrarminister Alois Rainer (CSU) das wohlwollend prüfen will.

Schweizer Käse: „Wenn man beim Mindestlohn Ausnahmen schafft, dann wird das Instrument langfristig überflüssig“, warnt Philipp.

STRATEGISCHE STAATSBETEILIGUNGEN

STAATLICHER STAHL: Die SPD liebäugelt mit Staatsbeteiligungen an Stahlkonzernen. „Wir müssen bei großer staatlicher Förderung auch über einen vorübergehenden Einstieg des Staates oder eine strategische Beteiligung an Stahlunternehmen reden“, sagte Sarah Philipp, Co-Chefin der NRW-SPD, zu Laura und Jürgen.

Förderung gegen Mitsprache: „NRW unterstützt die Transformation bei Thyssenkrupp mit 700 Millionen Euro, der historisch höchsten Einzelförderung des Landes“, so Philipp.

Kritik an schwarz-grüner Landesregierung: „Wenn ich mit Fördermitteln unterstütze, warum bekomme ich eigentlich keinen Sitz im Aufsichtsrat? Warum fordere ich das eigentlich nicht ein?“

„Wenn für Thyssenkrupp zwei Milliarden Euro Fördermittel fließen, kann es nicht sein, dass ein paar Wochen später 11.000 Arbeitsplätze in Duisburg auf dem Spiel stehen“, kritisierte Philipp. Bei Förderbescheiden müsse die Arbeitsplatzsicherung, Standortgarantie, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft garantiert sein.

Die Stahlkrise wird auch Thema beim SPD-Parteitag am Wochenende in Berlin. „Wir brauchen jetzt unbedingt einen Stahlgipfel“, so Philipp. „Das werden wir beim Parteitag auch einfordern.“

„Grüner Stahl ist zukunftsfähig“, beteuerte Philipp. „Aber dafür brauchen wir auch die Pipeline-Infrastruktur, um den Wasserstoff nach Duisburg zu bringen. Nach ArcelorMittal sei „natürlich die Angst da, dass dies auch bei ThyssenKrupp passieren könnte.“

ZÖLLE I

DEEP TALK: Beim gestrigen EU-Gipfel zeigte sich Bundeskanzler Friedrich Merz begeistert über die Detailtiefe der Gespräche, wie Hans von der Burchard in Brüssel hört. Doch bei seinem wichtigsten Anliegen — einem schnellen, wenn auch weniger umfangreichen Handelsabkommen mit den USA — gibt es kaum Fortschritt.

Realitätscheck: Im EU-Ratsgebäude musste sich der Kanzler von Kommissionschefin Ursula von der Leyen anhören, dass sich die Trump-Administration ausgerechnet bei seinem größten Anliegen — den sektoriellen Zöllen auf Produkte wie Autos, Maschinenbau oder Pharma — am wenigsten bewegen will.

Merz wiederum warnte, genau diese Branchen seien „mit so hohen Zöllen belastet, dass das die Unternehmen wirklich gefährdet“ — deswegen müsse eine Lösung gefunden werden, ASAP: „Lieber jetzt schnell und einfach als langsam und hochkompliziert.“

Pünktlich zum Gipfel legte Washington neue Forderungen vor — darunter Zugeständnisse im landwirtschaftlichen Bereich, die für die EU schwer zu akzeptieren sein dürften. „Wir bereiten uns auf die Möglichkeit vor, dass keine zufriedenstellende Einigung in Reichweite ist,“ warnte von der Leyen. Emmanuel Macron sagte wiederum, dass er mit einem 10-Prozent US-Zoll leben könne.

Problematisch ist aus Sicht der EU auch die Argumentation Trumps, die Zölle mit der nationalen Sicherheit zu begründen. In Stellungnahmen an das US-Handelsministerium hat Brüssel wiederholt Bedenken dazu geäußert und auf Vergeltungsmaßnahmen im Falle neuer Zölle hingewiesen, wie unser US-Kollege Doug Palmer nach Einsicht der Unterlagen berichtet.

Von der Leyens Gegenmaßnahme: Neue Verbündete suchen — etwa durch eine engere Partnerschaft mit dem indo-pazifischen CPTPP-Handelsverbund, aber auch durch die Schaffung einer Different zur paralysierten Welthandelsorganisation.

Merz unterstützt das: „Wenn die WTO so funktionsunfähig ist, wie sie es schon seit Jahren ist und offenbar auch bleibt, dann müssen wir, die den freien Handel unverändert für wichtig halten, uns etwas anderes einfallen lassen“, so der Kanzler.

Die jüngsten Zahlen zum US-Handelsdefizit dürften Trumps Zoll-Furor nicht bremsen. Es stieg im Mai nämlich um 11 Prozent auf 96,6 Milliarden Greenback, da die Exporte auf den niedrigsten Stand seit Januar sanken, wie aus dem jüngsten Superior Financial Indicator Report des US-Handelsministeriums vom Donnerstag hervorgeht.

KRISENMEETING: Ursula von der Leyen empfängt am kommenden Mittwoch — wenige Tage vor der Deadline im Zollstreit zwischen den USA und der EU — zwölf deutsche Prime-CEOs zum Lunch in Brüssel. Das wurde unserem Kollegen Rasmus Buchsteiner bestätigt.

Ungewöhnlich: Normalerweise empfängt von der Leyen im Berlaymont außerhalb von Dialog-Formaten der Kommission keine Firmenchefs. Türöffner conflict in diesem Fall Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst (CDU), der bei dem Treffen in Brüssel dabei sein wird.

Die Agenda: Bei dem Treffen dürfte es, wie zu hören ist, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gehen, um Industriepolitik und um die Zollfrage.

Die Gästeliste: Leonard Birnbaum (E.ON), Carsten Knobel (Henkel), Christian Kullmann (Evonik), Michael Lewis (Uniper), Miguel Lopez (Thyssenkrupp), Tobias Meyer (DHL), Armin Papperger (Rheinmetall), Juan Santamaria Circumstances (Hochtief), Lionel Souque (REWE), Carsten Spohr, (Lufthansa), Markus Steilemann (Covestro), Mathias Zachert (Lanxess), Arndt Kirchhoff (Unternehmer.NRW).

KANZLER-OPTIMISMUS ZU MERCOSUR: Schon Anfang nächster Woche soll der Südamerika-Deal den EU-Staaten zur Ratifizierung vorgelegt werden, sagte Merz am gestrigen späten Abend.

Gleich zweimal sprach der Kanzler sprach dazu mit Emmanuel Macron, dem größten Skeptiker. „Mein Eindruck conflict, … dass da eine große Bereitschaft besteht, das jetzt auf den Weg zu bringen,“ so Merz.

ZÖLLE II

LONDON CALLING: Großbritannien denkt darüber nach, dem europäischen Zollabkommen beizutreten. Die Regierung will Unternehmen zum Nutzen befragen. Damit ließen sich Vorschriften für internationale Lieferketten vereinfachen. Das berichtet mein Kollege Jon Stone.

Konkret geht es um das Pan-Europa-Mittelmeer-Zollabkommen (PEM), dessen revidierte Fassung am 1. Januar dieses Jahres in Kraft trat.

In der gestern veröffentlichten Handelsstrategie der britischen Regierung heißt es, der Beitritt zum PEM würde „die Flexibilität für britische Exporteure erhöhen, wo sie ihre Vorleistungen beziehen“.

Während die europäischen Staats- und Regierungschefs beim Abendessen darüber stritten, wie man am besten ein Handelsabkommen mit Trump abschließen könne, äußerte sich der britische Handelsminister zuversichtlich, das amerikanisch-britische Abkommen verbessern zu können.

„Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir bei den Gegenzöllen Fortschritte erzielen können“, antwortete Jonathan Reynolds auf eine Frage meines Kollegen Graham Lanktree in London.

INFRASTRUKTUR

SERVUS SCHNIEDER: Die Verkehrsminister treffen sich heute zu einer Sondersitzung in der Bayerischen Vertretung in Berlin, denn die Länder wollen wissen, wer die Kosten der Infrastruktursanierung zahlt.

„Es gibt einen enormen Nachholbedarf bei der Sanierung der Infrastruktur“, sagte der bayerische Verkehrsminister Christian Bernreiter, der auch den Vorsitz der Konferenz innehat, zu Laura.

Ein Großteil der 4.000 maroden Brücken in Deutschland will Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder bis 2032 sanieren.Im Sondervermögen Infrastruktur sind dafür in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro vorhergesehen, erst danach mehr.

6.000 Brücken bräuchten einen Ersatzbau, so einer Studie des Verbands T&E. Die Kosten belaufen sich auf 100 Milliarden Euro.

Zwar begrüßt Bernreiter das Sondervermögen Infrastruktur, aber dies erlaube „nicht jede Brücke gleichzeitig oder das gesamte Bahnnetz auf einmal [zu] sanieren“. Stattdessen müsse man den Fokus auf die Renovierung und Sanierung der Bahnstrecken setzen — nicht auf den Neubau.

BAUBESCHLEUNIGUNG

FALSCHES GESETZ IM KABINETT: Der Windbau-Turbo, der vergangene Woche durchs Kabinett ging, conflict eine veraltete Model. Das erfuhren Jasper Bennink und Tom aus dem Bundestag.

Im Vorfeld gingen zwischen dem Umwelt- und Wirtschaftsministerium und der Koalition mehrere Versionen des Entwurfs hin und her. Die Koalitionäre wollten Paragraf 16b im Bundes-Immissionsschutzgesetz anders formuliert sehen, als er jetzt vom Kabinett verabschiedet wurde.

Im Paragrafen geht es darum, dass nur die Bundeswehr und Luftverkehrsbehörden Einspruch gegen Änderungen bei bereits genehmigten Windrädern erheben dürfen. Die Koalition will, dass nach einer bestimmten Frist die Genehmigungsfiktion gilt. Dieser Satz fehlt im Gesetz.

Kein Drawback, heißt es aus der Koalition. Dies werde man mit Änderungsanträgen im parlamentarischen Verfahren wieder zurechtbiegen.

GREEN CLAIMS

SAG EINFACH NEIN: Der VDA kritisiert die geplante Inexperienced-Claims-Richtlinie als „Über- und Mehrfachregulierung“. Die Richtlinie belaste vor allem kleine Unternehmen, „ohne dass es einen erkennbaren praktischen Nutzen für die Kaufentscheidung der Verbraucher gäbe.“ Das berichtet Romanus.

Die Bundesregierung solle sich für die komplette Streichung einsetzen. „Es gibt in der EU bereits einen bestehenden Rechtsrahmen, um irreführende Werbung effektiv zu verhindern“, teilt der Verband mit.

KONJUNKTUR

HOFFNUNG: Die Deutsche Financial institution hat ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland in diesem Jahr auf 0,5 Prozent angehoben. Das geht aus einer neuen Analyse von Deutsche Financial institution Analysis hervor (hier).

Das ist die optimistischste Prognose unter den maßgeblichen Ökonomen, deren Konsensus bei rund 0,3 Prozent Wachstum liegt.

Momentum: Der Impuls der Ausgabenprogramme des Staates kann demnach stärker ausfallen als bisher angenommen. 2026 könne das Wachstum auf 2,0 Prozent anziehen.

HEUTE WICHTIG

— WOHNEN: Um 9:40 Uhr spricht Bundesbauministerin Verena Hubertz auf dem Deutschen Mietertag in Rostock.

— FRAGEN: Um11:30 Uhr findet die Regierungspressekonferenz statt.

— NACHBAR: Um 12 Uhr empfängt Friedrich Merz seinen österreichischen Amtskollegen Christian Stocker mit militärischen Ehren.

Das conflict Industrie und Handel— das Wirtschaftsbriefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!

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